Unter dem Begriff "Neue Wohnformen" können eine Vielzahl von ambulant oder
vollstationär organisierten Wohn- und Betreuungsformen subsummiert werden. Ihre
wesentlichen Merkmale sind sowohl die Abkehr von traditionellen
Organisationsprinzipien in den Bereichen Hauswirtschaft und Alltagsgestaltung,
als auch in der Pflege und Betreuung.
Es ist ohne Zweifel ein enormer Gewinn für die inhaltliche Diskussion von
Pflege, dass in Zusammenhang mit den Überlegungen darüber, wie diese zukünftig
in den Heimen für die Bewohner bedürfnisorientierter und qualitätvoller
gestaltet werden kann, zunehmend von Wohn- und Lebensqualität und nicht nur von
Pflegequalität die Rede ist. Im Zuge dieser Entwicklung stellt sich nun auch die
Frage, ob in solchen Wohnformen nicht auch die Qualifikationsprofile der
Mitarbeiter angepasst bzw. erweitert werden müssen.
Den maßgeblichen Anstoß, die bis dato vorherrschenden Versorgungsstrukturen,
insbesondere die der vollstationären Pflege, zu hinterfragen, hat sicher die
1998 vom Kuratorium Deutsche Altershilfe angestoßene Diskussion über das Konzept
der Hausgemeinschaften gegeben. Die als 4. Generation im Pflegeheimbau
bezeichnete, bauliche und inhaltliche Weiterentwicklung der stationären Pflege
in Bezug auf mehr Normalität, sieht nicht nur eine drastische Verkleinerung der
Wohngruppengrößen, sondern auch eine konsequente Auflösung zentraler,
anstaltsmäßiger Strukturen vor. Hierzu gehört insbesondere, dass in jeder
Wohngruppe wie in einem Haushalt selbständig gekocht und gewirtschaftet wird.
Die Verlagerung dieser Alltagsaktivitäten in die unmittelbare Nähe des Bewohners
hilft nicht nur den Tag für den Bewohner zu strukturieren, sie bringt auch mehr
Personal in die Nähe des Bewohners. Hierbei geht es weniger darum, dass der
Bewohner/Mieter sich aktiv an der Hauswirtschaft beteiligt
(Kartoffelschälromantik), sondern dass er Anregungen und Reize durch die
Aktivitäten erhält und somit die Eintönigkeit des Heimalltags nachhaltig
durchbrochen wird.
Dreh- und Angelpunkt und letztendlich der Schlüssel zur Realisierung einer
solchen Konzeption ist die Aufwertung der, bislang der Pflege untergeordneten,
"Hauswirtschaft" und ihre erfolgreiche Integration in den Pflegeheimalltag als
verbindendes und gestaltendes Element von Wohnumfeld und Pflege. Zu Beginn der
Diskussion wurde dies, insbesondere von den Berufsverbänden der Pflegeberufe,
aber auch von den konservativen Heimträgern, sehr kontrovers und ambivalent
diskutiert. Forderte dieser Ansatz doch eine Auflösung und Neugestaltung der
bestehenden, oft streng hierarchisch aufgebauten, Organisationsstrukturen
verbunden mit einer deutlichen Aufwertung der Hauswirtschaft als Mittel zu einer
stärker bedürfnisorientierten Milieugestaltung, insbesondere im Bestreben einer
qualitätvollen Betreuung demenziell erkrankter Menschen. In Folge dessen
beförderte die, in der Fachöffentlichkeit und Politik breit geführte, Diskussion
über Hausgemeinschaften als eine bessere Alternative zum Pflegeheim,
gleichzeitig die Weiterentwicklung der so genannten ambulant betreuten
Wohngemeinschaften.
Im Gegensatz zur vollstationären Hausgemeinschaft, sind Formen ambulant
betreuter Wohngemeinschaften in Deutschland eigentlich nicht wirklich neu. Schon
lange vor dem Aufkommen der Hausgemeinschaftsdiskussion gab es, insbesondere in
Berlin, aber auch in Bielefeld und anderen Kommunen, Wohnprojekte engagierter
Gruppen und Initiativen, welche bis dahin allerdings eher ein "Schattendasein"
führten.
Durch das Engagement der Bertelsmann Stiftung und des KDA, hat sich dies in
den letzten drei Jahren grundlegend geändert. So interessieren sich zunehmend
auch Wohnungs(bau)gesellschaften für dieses Betreuungs- und Versorgungskonzept
und entwickeln gemeinsam mit ambulanten Diensten stadtteilbezogene
Wohnstrukturen. In der Regel wird durch eine Umwandlung und Zusammenfassung
mehrerer Wohnungen im Bestand, eine Wohngruppe von mehreren, pflegebedürftigen
Mietern gebildet, die dann eine Interessensgemeinschaft darstellt und ihre
Pflege und Ihren Alltag dementsprechend selbst organisiert. Hierbei wird die
Gemeinschaft von engagierten Einzelpersonen, Betreuern, Verbänden und/oder
Vereinen unterstützt, die sich gemeinsam mit einem Pflegedienst oder auch
mehreren Pflegediensten um die Gestaltung der Pflege und Betreuung der meist
demenziell erkrankten Mieter kümmern.
Zum Einsatz kommen hier häufig Pflege- und Hauswirtschaftskräfte der
ambulanten Pflegedienste, die über Erfahrung in der häuslichen Pflege verfügen
und den Pflegebedürftigen in einer solchen Gruppe ganz selbstverständlich "wie
zu Hause" pflegen.
Ganz anders stellt sich die Situation in einem Pflegeheim dar. Die
Mitarbeiter der verschiedenen Funktionsbereiche sind im Gegensatz zur ambulanten
Pflege daran gewöhnt, eher funktionsorientiert, also in den Kategorien: Pflege,
Sozialer Dienst oder Küche und Hauswirtschaft zu denken und dementsprechend zu
arbeiten. Somit stellen sich die Anforderungen an die Mitarbeiter in den beiden
vorgenannten neuen Wohnformen höchst unterschiedlich dar, obwohl das fachliche
Grundkonzept und ethische Leitbild von ambulant betreuten Wohngemeinschaften und
vollstationären Hausgemeinschaften annähernd identisch ist, bzw. zumindest sein
sollte.
Während also in einer ambulant betreuten WG überwiegend Mitarbeiter
eingesetzt werden, die das arbeitsteilige Miteinander von Angehörigen, Pflege
und Hauswirtschaft aus ihrem Arbeitsalltag kennen, ist diese Form der
Zusammenarbeit im Pflegeheim alles andere als selbstverständlich. Dies erfordert
nicht nur von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Pflege und
Hauswirtschaft, sondern insbesondere auch von den Leitungskräften, ein
grundlegendes Umdenken, denn entgegen der Auffassung mancher Träger ist es
nämlich nicht damit getan, eine Küchenzeile in einem Wohnbereich zu installieren
und dort durch angelernte Hauswirtschaftskräfte ein "bisschen" zu Kochen und
Abzuwaschen. Dass dies eine gravierende Fehleinschätzung ist, haben
zwischenzeitlich einige Anbieter leidvoll erfahren müssen.
Aus Hauswirtschaft wird Alltagsbegleitung
Vielmehr ist es so, dass die in einer funktionsfähigen Hausgemeinschaft
eingesetzten Kräfte, neben ihren hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, eine Fülle
zusätzlicher Aufgaben wahrnehmen und bewältigen müssen, von denen eine zentrale
(vielleicht auch die Wichtigste), die Kommunikation mit dem einzelnen Bewohner
und die Gestaltung des Alltags der gesamten Wohngruppe ist.
Diese Mitarbeiter sind für die Bewohner und die Besucher immer präsent,
weshalb auch der Begriff der Präsenzkraft nicht ungeeignet ist, dieses
Aufgabenfeld zu beschreiben.
Die in diesem Aufgabenbereich eingesetzten Frauen und Männer übernehmen
demnach eine Fülle von Tätigkeiten, die in traditionellen Pflegeheimstrukturen
von den Pflegefach- und Hilfskräften, dem sozialen Dienst, Zivildienstleistenden
und Reinigungsfrauen erbracht werden, sofern sie überhaupt stattfinden, da sich
hierfür häufig niemand zuständig fühlt oder keine Stelle im Stellenplan dafür
vorgesehen ist.
Mit dem Hausgemeinschaftsprinzip wurde also ein neues Arbeitsfeld in der
Pflege und Betreuung entwickelt, welches zunehmend eine stärkere, fachliche und
inhaltliche Ausprägung erhält bzw. auch erhalten muss.
So haben die Träger, die den Mut hatten, sich schon sehr früh mit diesem
Konzept auseinanderzusetzen, sehr schnell festgestellt, die in einer
Hausgemeinschaft eingesetzten Kräfte für diese Aufgabe nicht nur sehr sorgfältig
ausgewählt, sondern auch angemessen geschult und auf ihr neues, komplexes
Aufgabenfeld vorbereitet werden müssen. Aber auch die Pflegemitarbeiter müssen
umfassend auf die veränderten Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten vorbereitet
werden. So sind sie in einer funktionierenden Hausgemeinschaft häufig nicht mehr
die wichtigste Person für den Bewohner und müssen lernen, mit der neuen
Situation und der mit ihr einhergehenden, neuen veränderten Rollenverteilung
umzugehen und nicht in Konkurrenz mit den Präsenzkräften bzw. Alltagsbegleitern
zu treten. Pflege und Hauswirtschaft befinden sich auf gleicher Augenhöhe, denn
in einer Hausgemeinschaft sind diese Mitarbeiter für alle hauswirtschaftlichen
und betreuenden Tätigkeiten verantwortlich und organisieren gemeinsam mit den
Bewohnern und den Fachpflegekräften den Ablauf des Tages. Darüber hinaus sind
sie für die Moderation der sozialen Prozesse in der Gruppe verantwortlich und
sowohl intern wie auch extern unmittelbare Ansprechpartner für Bewohner,
Angehörige, Pflegedienste usw.. Sie tragen also gemeinsam mit den
Fachpflegebezugspersonen die Gesamtverantwortung für die Lebensqualität, wobei
ihr Schwerpunkt in der Alltagsgestaltung und Betreuung liegt, mit dem Anspruch,
alle möglichen Maßnahmen zur möglichst selbstständigen Lebensgestaltung der
Bewohner, unter Einbezug der Angehörigen, Freunde und/oder Nachbarn zu
gewährleisten. So verstehen sich diese Wohnformen auch immer als ein offener und
transparenter Teil des Gemeinwesens. Aus diesem Grund müssen die Präsenzkräfte
auch über Kompetenzen im Bereich der Kommunikation und Vernetzung verfügen und
darin geschult werden.
Obgleich die meisten "Neuen Wohnformen" wesentliche Elemente des
Hausgemeinschaftsprinzips beinhalten, ist häufig festzustellen, dass in der
praktischen Umsetzung an entscheidenden Punkten vom Ausgangskonzept abgewichen
wird.
So wird der Begriff der Bezugsperson (Fachpflege) mit dem der Präsenzkraft
verwechselt.
Dies führt zu einer Vermischung von Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den
Fachpflegebezugspersonen und den Präsenzkräften, was wiederum zu Unsicherheiten
führt und Konfliktpotenziale zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
birgt.
Es kann deshalb nur dringend empfohlen werden, das Tätigkeitsfeld der
Alltagsbegleitung als eigenständigen Bereich zu definieren und zu verantworten
und nicht der Fachpflege unterzuordnen, da die Aufgaben der Präsenzkraft eben
nicht in der Durchführung der Fachpflege liegen, sondern darin, die Organisation
und Moderation des Alltags, inclusive aller hauswirtschaftlichen Tätigkeiten,
vorzunehmen.
Dieser hohe Anspruch erfordert einerseits eine überdurchschnittliche,
sozialen Kompetenz bei hoher Belastbarkeit und andererseits auch eine
professionelle Anleitung, wie auch eine umfassende, klar definierte Beschreibung
des Arbeitsfeldes und der von ihr geforderten Kompetenzen. In diesem Sinne ist
es sehr zu begrüßen, dass einige Träger ihre, häufig als interne Schulungen
entwickelten, Qualifizierungskonzepte curricular weiterentwickelt haben und sie
jetzt zunehmend auch für Externe öffnen. Das neue Tätigkeitsfeld der
Präsenzkraft bzw. der Alltags- oder Aktivitätenbegleitung in den sogenannten
neuen Wohnformen muss zukünftig klarer definiert und konzeptionell abgesichert
werden. Qualifizierungsmaßnahmen und Fortbildungen sind ein wichtiger Beitrag
diese Wohnformen inhaltlich und organisatorisch mit Leben zu erfüllen und sie
weiterzuentwickeln.